Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: in Europa und in der Schweiz sei die Leistungsbereitschaft der Erwerbsfähigen schwach. Und das sei eine Gefahr für unseren Wirtschaftsstandort und den Wohlstand. Tatsächlich weist der Gallup Report für «Workplace Engagement» im globalen Vergleich rekordtiefe Zahlen für den Europäischen Wirtschaftsraum aus.
Es gibt sicher gesellschaftspolitische Einflussfaktoren für das Symptom. Auf diese haben Führungskräfte jedoch keinen direkten Einfluss. Worauf sie hingegen Einfluss haben, ist ihr eigenes Führungsverhalten und welche Formen von Leadership sie bei ihren Führungskräften dulden. Schlechte Chefs schaden nämlich der Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden und sie sind u.a. eine Ursache für hohe Fluktuation und tiefe Motivation.
Organisationen, die systematisch gute Chefs und Chefinnen rekrutieren und befördern, sind mehrfach im Vorteil: Sie senken die Fluktuation, sie stärken die Zusammenarbeit, sie fördern Innovationen, sie sichern die Qualität, sie steigern die Produktivität, denn sie haben motiviertere Mitarbeitende. Zufriedene Mitarbeitende leisten mehr und besser.
Im Board Mail 2025 publiziere ich eine Auswahl von Themen und Techniken, wie Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden wirksamer und die Organisationen produktiver werden. Dabei geht es darum, mit weniger Einsatz von Energie und Zeit, mehr und hochwertigere Arbeitsergebnisse zu erbringen.
In den vergangenen Jahrzehnten haben Organisationen dieses Ziel verfolgt, zuerst indem sie die Spezialisierung, Prozessoptimierung, Automatisierung und später die Digitalisierung vorangetrieben haben. Diese Mittel sind natürlich weiterhin geeignet, wenn sie richtig eingesetzt werden.
Doch Mitarbeitende, die sich als «Human Ressource» oder «Produktionsfaktor» wie Komponenten in einer Maschine fühlen, entfremden sich von der Arbeit und der Organisation.
Deshalb bin ich überzeugt, dass Organisationen mehr Menschlichkeit brauchen, um mehr Hochleistung erbringen zu können. Der grösste Führungsfehler, den Vorgesetzte machen können, ist die Leistungserwartung zu senken, statt die Menschlichkeit zu erhöhen. Der zweitgrösste Fehler von Führungskräften ist es, die Leistungserwartung hochzuschrauben und dabei die Menschlichkeit verkümmern zu lassen. Beides schwächt Organisationen.
In starken, leistungsfähigen Organisationen wird die Leistungserwartung mit Menschlichkeit aufgewogen. Davon handelt diese Artikelreihe.
Achtsamkeit
Achtsamkeit hat in den letzten Jahren zunehmend Einzug in die Management- und Führungslehre gehalten. Dieser Ansatz, der seine Wurzeln in der buddhistischen Meditation hat, wird heute als wertvolles Instrument für effektive Führung anerkannt.
Achtsamkeit in der Führung, auch als Mindful Leadership bekannt, bezeichnet eine nicht-wertende und aufmerksam beobachtende Haltung. Es geht darum, bewusst wahrzunehmen, was im Hier und Jetzt geschieht, ohne sich in Vorurteilen oder unbewussten Reaktionen zu verstricken. Die Integration von Achtsamkeit in die Führungslehre begann in den USA und hat sich mittlerweile weltweit verbreitet. Achtsamkeit wirkt sowohl bei den praktizierenden Führungskräften selber, wie auch in der Zusammenarbeit in Teams.
Achtsamkeitspraktiken verbessern die Konzentration und Informationsverarbeitung. Sie steigern die Regulierung von Gefühlen und erhöhen die Empathie. Sie unterstützen die Unterbrechung unbewusster Reaktionsmuster und fördern bewussteres Handeln. Sie tragen sogar dazu bei, Stresssymptome zu reduzieren und verbessern die Gesundheit.
Studien haben gezeigt, dass die Anwendung von Achtsamkeitspraktiken zu einer Verbesserung der Führungskompetenzen, einer Steigerung der Arbeitszufriedenheit und einer Reduktion von krankheitsbedingten Ausfällen führen kann.
Die andere Seite:
Unachtsamkeit und Gehorsam
Das Gegenteil von Achtsamkeit ist Unachtsamkeit. Der Mensch funktioniert dabei ohne bewusste Reflektion und Beobachtung quasi im Autopilot-Modus der Instinkte, Reflexe und Emotionen. Das spart Energie und Zeit. Unachtsamkeit ist bequem und schnell. Unachtsamkeit eignet sich für alle Situationen, die unüberlegt und automatisch abgewickelt werden können.
Literaturhinweis: schnelles Denken – langsames Denken, D. Kahnemann
Ein anderes Gegenteil von Achtsamkeit ist Gehorsam. Oder Dienst nach Vorschrift. Der Mensch funktioniert dabei, wie ein Programm oder Maschine, die Befehle ausführt. Das spart Energie und Zeit. Gehorsam ist bequem und schnell. Man kann dabei Verantwortung abgeben. Gehorsam eignet sich für Situationen, die sehr schnell, sehr präzis ablaufen müssen. Insbesondere in Gefahren- und Notsituationen ist es angezeigt, das Sicherheitsdispositiv gehorsam umzusetzen oder der zuständigen Führungsfigur zu folgen.
Wenn Achtsamkeit als Haltung in bestimmten Situationen in Frage gestellt wird, dann hilft es, gemeinsam über das Gegenteil nachzudenken, denn in manchen Situationen ist eigenverantwortliches, überlegtes Arbeiten unangemessen.
Achtsamkeit falsch verstanden
Achtsamkeit ist eine Haltung, die ständige Praxis und Selbstreflektion erfordert. Man kann diese nicht in einem Kurs lernen und meinen, man habe danach Achtsamkeit ins Führungsrepertoire integriert. So bliebe sie oberflächlich. Wie jede Form der Entwicklung von Führungsreife, braucht Achtsamkeit ständige Anwendung, bewusstes Training und Feedback. Ohne Feedback kann sich die Achtsamkeit nicht an den Bedürfnissen der Organisation und der Mitarbeitenden orientieren. Sie ist kein Selbstzweck. Falsch verstandene Achtsamkeit kann übergriffig wirken und Schaden anrichten, wenn sie das Vertrauen, die Nähe und die Beziehung missbraucht.
Wie Achtsamkeit die Zusammenarbeit und Arbeitsergebnisse verbessert
Achtsamkeit, verstanden als bewusste Präsenz im Moment ohne Wertung, wirkt sich positiv auf die Dynamik innerhalb von Teams und deren Arbeitsergebnisse aus.
- Verbesserte Kommunikation: Achtsamkeit fördert eine bewusste und nicht-wertende Interaktion zwischen Teammitgliedern. Dies reduziert Missverständnisse und schafft eine offene Atmosphäre für konstruktiven Austausch. Fehler, Unklarheiten, Ungenauigkeiten können so leichter angegangen und mit weniger Schuld- und Schamgefühlen vermieden werden.
- Konfliktmanagement: Teams mit viel Übung in Achtsamkeit sind besser in der Lage, Konflikte zu erkennen und konstruktiv zu lösen. Achtsame Teammitglieder reagieren reflektierter und weniger impulsiv auf Differenzen, was die Eskalation von Spannungen verhindert.
- Erhöhtes Vertrauen: Durch achtsame Interaktionen wird Vertrauen innerhalb des Teams gestärkt. Dies schafft eine unterstützende Arbeitsumgebung, in der sich Mitglieder sicher fühlen, ihre Meinungen zu äussern. Gerade für die Qualitätssicherung ist das von hohem Wert.
- Stärkung des Zusammenhalts: Gemeinsame Achtsamkeitspraktiken wie Reflexionsrunden fördern den Teamzusammenhalt, indem sie das Bewusstsein für gemeinsame Ziele und gegenseitige Unterstützung stärken.
- Förderung von Innovation: Achtsamkeit hilft Teams, offener für neue Perspektiven zu sein und kreative Lösungen zu entwickeln. Sie reduziert den sogenannten Gruppendenken-Effekt, da sie eine tolerante Haltung gegenüber unterschiedlichen Meinungen unterstützt.
Alltags-Praktiken, die Achtsamkeit fördern
«Wie geht es Dir jetzt?» gefolgt von der Aufmerksamkeit für eine authentische Antwort auf diese Frage sind ein wirkungsvoller Einstieg in ein achtsames Gespräch. Es klingt banal, doch es lohnt sich, diesen einfachen Eröffnungssatz mit Interesse und Zeit für die Antwort auszusprechen.
In Gesprächen offene W-Fragen stellen und lösungsorientierte Coaching-Techniken in der Führung anwenden. Offene Fragen kann man nicht knapp mit ja oder nein beantworten. Lösungsorientierte Techniken regen das Gegenüber zur Eigenverantwortung für die Entwicklung einer Lösung an.
Sich selbst beobachten: Wer ungeduldig wird und direkt Lösungen anbietet, bei dem sinkt in der Regel die Achtsamkeit.
Mitarbeitende beobachten und Feedback geben: Stresssymptome und andere Änderungen im Verhalten ansprechen.
Feedback
Feedback bedeutet Rückmeldung. Der Mensch ist ein soziales Wesen und richtet sein Verhalten und seine Entwicklung an den Rückmeldungen seiner Umgebung aus. Feedback zu geben ist eine spezifische Form der Kommunikation. Richtig und bewusst eingesetzt, kann Feedback die Motivation erheblich steigern, wenn es Wertschätzung und Aufmerksamkeit zeigt, Orientierung und Sicherheit gibt sowie das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Entwicklung fördert.
Man kann nicht nicht Feedback geben
Jeder Mensch gibt immer Feedback. Schweigen, Davonlaufen, Ignorieren, Auslachen, Abwehren, Anschreien, keine Zeit haben, Zurechtweisen, Schmollen, Verhöhnen usw. sind auch Formen von Rückmeldungen, an die Mitarbeitende und Teams ihr Verhalten anpassen. Solche meist destruktiv wirkenden Formen von Feedback entstehen oft aus Unachtsamkeit.
Führung ist eine besondere Form der Zusammenarbeit in Organisationen. Auf jedes Feedback einer Führungsperson folgt eine Reaktion, die wiederum eine Rückmeldung an die Führungskraft ist. Dieses Wechselspiel führt zu gelingender Zusammenarbeit oder eben nicht. Deshalb ist Feedback zentral. Feedback hilft, gemeinsam den Kurs zu halten und produktiv zu bleiben.
Mit einer gesunden Feedback-Kultur können Probleme frühzeitig erkannt und angegangen werden, bevor sie eskalieren.
Feedback annehmen
Jeder Mensch reagiert immer irgendwie auf Feedback. Feedback kann Emotionen und Reaktionen auslösen, die unangenehm sind. Selbst positives Feedback kann für den Empfänger oder die Empfängerin unangenehm sein. Manche Menschen mögen zum Beispiel kein Lob. Andere reagieren sehr abweisend auf konstruktive und berechtigte Kritik. Oft weil sie sie persönlich nehmen.
Wie Feedback angenommen wird, verdient ebenso viel Aufmerksamkeit, wie Feedback das gegeben wird. Nicht jedes Feedback, das schlecht ankommt, wurde falsch gesendet. Führungskräfte können ihre Mitarbeitenden im produktiven Annehmen von Feedback ebenso schulen, wie darin, dass diese selbst auch Rückmeldungen geben.
Arten von Feedback
Es gibt verschiedene Formen von Feedback:
- Formelles Feedback, wie z.B. in einem Mitarbeitergespräch
- Informelles Feedback, wie eine spontane Rückmeldung im Alltag
- 360-Grad-Feedback, wie z.B. eine Mitarbeiterbefragung
- Inneres Feedback, wie z.B. eine Selbstreflexion
Jede Form hat ihre Berechtigung und sollte der Fragestellung und Situation angemessen eingesetzt werden.
Um Feedback wirkungsvoll zu gestalten, sollte dieses möglichst zeitnah zur beobachteten Situation oder Fragestellung gegeben werden. Es soll konkrete Beispiele und Beobachtungen enthalten und so wenig wie möglich vage Allgemeinplätze. Der Fokus sollte auf Verbesserungsmöglichkeiten liegen, nicht auf Schuldzuweisungen. Feedback sollte als Austausch und nicht einseitig gestaltet sein. Oft wird dazu geraten, dass kritisches Feedback in positive Rückmeldungen eingebettet werden soll. Das durchschauen viele Menschen. In einer gepflegten Feedbackkultur ist das nicht unbedingt notwendig.
Häufige Missverständnisse
- Feedback als Kritik: Viele verstehen Feedback fälschlicherweise nur als negative Kritik, statt als Plattform für Aufmerksamkeit aller Art und Chance zur Verbesserung.
- Angst vor Repressalien: Mitarbeitende befürchten oft negative Konsequenzen für ehrliches Feedback.
- Kulturelle Unterschiede: In diversen Teams können kulturelle Unterschiede zu Missverständnissen beim Geben und Empfangen von Feedback führen.
- Feedback als Einbahnstrasse: Oft wird Feedback nur von oben nach unten gegeben, statt einen offenen Dialog zu fördern.
- Vernachlässigung positiven Feedbacks: Gute Leistungen werden oft als selbstverständlich betrachtet und nicht angemessen gewürdigt.
Eine wirksame Feedbackkultur in einer Organisation pflegt daher den Entwicklungsansatz (growth mindset), psychologische Sicherheit, Achtsamkeit, Dialog und Wertschätzung.
Esther-Mirjam de Boer ist CEO von Brainboards AG. Sie findet und entwickelt Führungskräfte für Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte. Zu ihren Kunden zählen börsenkotierte bis mittelgrosse Firmen in der Schweiz, die insbesondere in der Industrie, Technologie, IT, Ingenieur- und Bauwesen sowie im Gesundheitswesen tätig sind. Auch NGOs und Stiftungen nutzen ihre Dienstleistungen.
Als Workshopleiterin und Rednerin engagiert sich Esther-Mirjam de Boer für Leadership-Themen.