Leadership beurteilen

“Leadership ist, wenn andere folgen!” – Das ist eine weit verbreitete und oft zitierte Kurzformel, um Leadership zu beschreiben. Sie betont ein wichtiges Merkmal von Führung, nämlich die Fähigkeit, andere zu beeinflussen und zu motivieren, einem bestimmten Kurs zu folgen. Während diese Definition wichtige Aspekte der Führung hervorhebt, regt sie auch zu kritischen Überlegungen an, die unser Verständnis von Leadership und ihrer Beurteilung vertiefen können.

Zunächst einmal kann die Vorstellung, dass Leadership ausschliesslich darin besteht, dass andere folgen, zu einem zu einfachen Verständnis von Führung verleiten. Es ist ja nicht so, dass die Fähigkeit, Anhänger zu gewinnen, in der Wirtschaft das Hauptmerkmal für erfolgreiche Führung ist. Dies könnte zu einer Konzentration auf kurzfristige Ergebnisse und unmittelbare Anhängerschaft führen, wie wir es am ehesten im Populismus und bei Influencern auf Social Media sehen können. Innerhalb von Teams und Organisationen liegt das Augenmerk jedoch auf einer langfristigen und nachhaltigen Wirkung im ganzen System und auf dem Erfolg der gemeinsamen Mission.

Die Idee, dass Leadership nur dann besteht, wenn andere folgen, birgt zudem die Gefahr einer fehlerhaften Messung des Führungserfolgs. Eine Person könnte viele Mitarbeitende haben, aber dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ihre Führung effektiv oder positiv ist. Die blosse Anzahl der Folgenden sagt wenig über die Qualität der Führung aus, da es auch negative Einflüsse geben kann, die zu einer grossen Gefolgschaft führen. Angstkultur zum Beispiel. Das können wir in autokratischen Ländern und manchen Religionsgemeinschaften gut beobachten. Aber auch in Unternehmen bedeutet eine grosse Führungsspanne nicht zwingend, dass die Führungskraft positiven Einfluss ausübt.

Leadership ohne Mitarbeitende

Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass Führung auch dann vorhanden sein kann, wenn keine offensichtlichen Anhänger existieren. Einzelne Personen können als Führungsfiguren aktiv sein, indem sie von der Seitenlinie Einfluss nehmen, innovative Ideen vorantreiben, Visionen entwickeln und Veränderungen initiieren, auch wenn sie keine unmittelbare Nachahmung durch andere erhalten. Diese Art von Leadership, die oft als “nachfolgerloses Führen” bezeichnet wird, wird in der simplen Definition am Anfang dieses Artikels nicht angemessen berücksichtigt.

Darüber hinaus ist es wichtig anzumerken, dass Leadership nicht immer auf eine Person oder Position beschränkt ist. Es kann in verschiedenen Formen und Kontexten auftreten, von informellen Führungskräften innerhalb eines Teams bis hin zu kollektiven Führungsdynamiken in Organisationen. Die Definition “Leadership ist, wenn andere folgen” kann daher die Vielfalt und Komplexität der Führungserfahrungen einschränken, indem sie eine zu enge Vorstellung davon vermittelt, was Leadership eigentlich ausmacht.

Eine kritische Reflexion über die Definition von Leadership erinnert uns daran, dass Führung vielschichtig ist und verschiedene Formen annehmen kann, die über die blosse Anhängerschaft hinausgehen. Es ist wichtig, dass wir ein breiteres Verständnis von Führung entwickeln, das die verschiedenen Dimensionen und Facetten dieses entscheidenden Konzepts angemessen würdigt.

Einflussnahme:

Leadership wird dabei als die Fähigkeit umschrieben, andere zu beeinflussen und zu motivieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dieses Verständnis betont die soziale Komponente der Führung. Diese Führungsdimension liegt zum Beispiel dem Begriff «Transformational Leadership» zugrunde.

Vision:

Einige Beschreibungen von Leadership betonen die Bedeutung einer klaren Vision oder Richtung, die von einer Führungskraft kommuniziert und umgesetzt wird, um andere zu inspirieren und zu leiten. Dieses Leadership-Verständnis geht davon aus, dass die so Geführten ihren Weg eigenverantwortlich finden, wenn sie dem Kompass folgen, der sie auf die Vision ausrichtet. Visionäre Führung eröffnet einen grossen Handlungsspielraum.

Prozess: 

Dabei wird Leadership als ein kontinuierlicher Prozess gesehen, der sich durch Kommunikation, Entscheidungsfindung, Delegation und Motivation auszeichnet, um die Ausführung von Arbeit in Prozessketten zu organisieren und optimieren, die dem Zweck dienen, die Ziele der Organisation zu erreichen.

Fähigkeit:

Diese Perspektive betrachtet Leadership als einen Satz von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die erlernt und entwickelt werden können, um andere effektiv zu führen und zu beeinflussen. Management und Leadership werden dabei als eine Art Handwerk verstanden.

Verantwortung:

Andere Definitionen von Leadership betonen die Verantwortung einer Führungskraft, für das Wohlergehen und die Leistung ihrer Mitarbeitenden sowie für den Erfolg der Organisation als Ganzes zu sorgen.

Vorbild:

Diese Betrachtung legt nahe, dass Führungskräfte durch ihr eigenes Verhalten und ihre Handlungen als Vorbilder dienen sollten, um andere zu inspirieren und zu motivieren. 

Anpassungsfähigkeit:

In sich schnell verändernden Umgebungen wird Leadership oft auch als die Fähigkeit definiert, sich an neue Herausforderungen anzupassen, Innovationen voranzutreiben und Flexibilität zu zeigen. In diesem Führungsverständnis tauchen die Begriffe Agilität und Resilienz oft auf.

Beziehung:

Diese Dimension betont die Bedeutung von Beziehungen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitenden. Leadership wird als die Fähigkeit betrachtet, Vertrauen aufzubauen, Empathie zu zeigen und wirksam zu kommunizieren. Gute Beziehungsarbeit in der Führung führt zu psychologischer Sicherheit.

Strategie:

In dieser Facette wird Leadership als die Fähigkeit betrachtet, eine klare strategische Ausrichtung für eine Organisation oder ein Team zu entwickeln und umzusetzen, um langfristigen Erfolg sicherzustellen.

Innovation:

In einigen Definitionen wird Leadership als die Fähigkeit betrachtet, neue Ideen zu generieren, Veränderungen voranzutreiben und kreative Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln.

Entschlossenheit:

Manche Definitionen von Leadership betonen die Fähigkeit der Führungskraft Entscheide zu fällen und diese durchzusetzen. Gerade in Zeiten steigender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (im Englischen als «VUCA» abgekürzt) steigt die Bedeutung der Handlungsfähigkeit trotz unvollständigen und unsicheren Informationen.

Werte:

Leadership kann auch durch die Werte definiert werden, die eine Führungskraft verkörpert und in ihrem Handeln demonstriert. Diese Werte können Integrität, Ehrlichkeit, Authentizität, Fairness und ethisches Verhalten umfassen, die das Fundament für Vertrauen und Respekt in der Organisation bilden.

Kontrolle:

Ein weiteres Element von Leadership ist die Fähigkeit zur Kontrolle, wobei es darum geht, angemessene Kontrolle über Prozesse, Ressourcen und Ergebnisse zu gewährleisten, um Effizienz und Effektivität sicherzustellen. Diese Kontrolle bezieht sich nicht nur auf die Überwachung von Arbeitsabläufen, sondern auch auf die Fähigkeit, bei Bedarf Anpassungen vorzunehmen und die Richtung zu korrigieren, um die Ziele zu erreichen. Dabei ist es wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Vertrauen zu finden, um Mitarbeiter zu befähigen und zu ermutigen, während gleichzeitig die notwendige Struktur und Richtung beibehalten wird.

Auftreten:

Manche behaupten: «Ich erkenne einen Leader, wenn ich ihn sehe». Der erste Eindruck ist oft entscheidend, ob man einem Menschen Leadership zutraut. Das kann aber auch eine gefährliche Falle bei der Führungskräftebeurteilung sein, die zu Fehleinschätzungen verleitet. Innert Sekunden werden dabei in einer ersten Begegnung das Erscheinungsbild und Auftreten einer Person mit der unbewussten Erwartungshaltung abgeglichen. Dabei sind oft sogenannte «unconscious biases» (unbewusste Vorurteile) am Werk.

Wir sehen bei dieser Auseinandersetzung mit verschiedenen Blickwinkeln auf die Definition von Leadership, dass es nicht DIE richtige Leadership gibt und geben kann. Abhängig vom Umfeld und den Aufgabestellungen, die Führungskräfte mit ihren Mitarbeitenden lösen sollen, erhält die eine oder andere Dimension mehr Bedeutung. Daher ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, in welcher Art von Leadership eine Führungskraft begabt sein soll, wenn es um die Rekrutierung oder Beförderung geht, damit die Stärken der Person zur eigentlichen Aufgabe passen.

Leadership: Ergebnisse statt Eigenschaften messen.

Die Management-Literatur ist voll von Beschreibungen, welche Eigenschaften gute Leadership ausmachen. Sie bilden den Versuch, eine ideale Schablone zu definieren, mit der man Führungskräfte beurteilen kann. In der Realität erreichen die meisten Vorgesetzten nicht annähernd die Maximalpunktzahl. Das kommt mitunter daher, weil bei den erwünschten Eigenschaften oft Gegensätze aufgeführt werden. Das führt zu einer gefährlichen Defizit-Orientierung bei der Einschätzung, die viele begabte und wirksame Führungskräfte entmutigt und frustriert. Niemand entspricht dem Idealbild. Das drückt auf die Stimmung und fördert Unzufriedenheit.

Gerade deshalb ist es wichtig, anstelle der Eigenschaften von Führungskräften die Ergebnisse von guter Führung zu messen. Umsatzziele, EBIT, Liquidität, Qualitätskennzahlen und Kundenzufriedenheit gehören selbstverständlich dazu. Diese sind aber in vielen Branchen lediglich späte Indikatoren von guter oder schlechter Leadership. Dazu gehört auch die Fluktuationsrate: Wenn auffällig viele Mitarbeitende die Firma verlassen, ist das Führungsproblem bereits länger am Schwelen. Eigentümer und Verwaltungsrat sollten deshalb viel früher wissen wollen, ob im Unternehmen die Führung schwach ist – nämlich bevor die Probleme offensichtlich sind und ihre Lösung teuer wird.

«Mitarbeitende kommen wegen der Firma und gehen wegen der Führung»

Frühindikatoren

Zu den frühen Indikatoren guter Führung gehören kulturelle Faktoren, die man in Befragungen der Mitarbeitenden herausfinden kann. Die Menschen im Unternehmen wissen, ob die Werte gelebt werden und die Strategie allen bekannt ist und auch konsequent verfolgt wird. Sie wissen, ob ihr Leistungspotenzial unnötig kontrolliert, gebremst und eingeschränkt wird. Sie sehen, ob Verhaltensweisen geduldet werden, die im Widerspruch stehen mit den kommunizierten Werten. Sie erleben auch, ob Führungskräfte Mikromanagement oder Willkür walten lassen und die Belegschaft gegeneinander aufbringt, statt sie zu einen. Und manche können auch erkennen, ob Misswirtschaft und Missbrauch betrieben werden.

Ein weiterer früher Indikator guter Führung ist die Demografie im Unternehmen. Gute Führungskräfte schaffen es leichter und nachhaltiger, sowohl Junge wie Alte, allerlei Geschlecht, Herkunft und Ausbildung mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und -philosophien einzustellen und in die produktive Zusammenarbeit zu inkludieren, damit sie auch bleiben. Bei Demografie-Messungen müssen allerdings die Branchen-Demografie berücksichtigt werden sowie strukturelle Unterschiede, um aussagekräftige Indikatoren zu bilden.

Rasches Urteil bilden

Am Anfang einer Zusammenarbeit steht eine Probezeit. Diese kann für besondere Aufmerksamkeit genutzt werden, ob die Führungskraft sich mit wirksamer Leadership bewährt. Allerdings möchte man oft schon vor der Einstellung oder Beförderung eine Ahnung haben, wer sich für effektive Führungsarbeit besonders gut eignet. Aus der Forschung kennt man dafür zwei starke Indikatoren:

  1. Die allgemeine Intelligenz, die man zum Beispiel mit einem IQ-Test ermitteln kann.
  2. Die allgemeine Unvoreingenommenheit (Abwesenheit von Vorurteilen), die man mit dem «Implicit Association Test» von Harvard ermitteln kann.

 

Eine weitere Ebene ist für gute Führungsergebnisse relevant: die Zwischenmenschlichkeit. Den Anstand im Umgang kann man am besten testen, wenn der Kandidatin oder dem Kandidaten in einer Interview-Situation mit einer deutlich untergeordneten Person ein Missgeschick passiert. Manche Arbeitgeber lassen Service-Personal im Restaurant absichtlich etwas verschütten, um die Reaktion des Gegenübers zu beobachten. Unanständige Menschen haben sich gegenüber Vorgesetzten meistens im Griff, aber ihre Selbstkontrolle schwindet, wenn «unwichtige» Personen Fehler machen. Das ist ein wichtiges Warnzeichen – (diese letzte Erkenntnis ist bei “Principles” von Ray Dalio abgeschaut).

Esther-Mirjam de Boer, CEO Brainboards AG, Board Advisory and Executive Search

Esther-Mirjam de Boer ist geschäftsleitende Teilhaberin der BRAINBOARDS AG – Board Advisory & Executive Search. Sie ist seit 22 Jahren selbständige Strategieberaterin und Sparring Partner für Top-Führungskräfte. Die mehrfache Verwaltungsrätin berät Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte zu Arbeitgeberattraktivität, Personalstrategie und Führungskultur in einer vielfältiger werdenden Arbeitswelt.