Mikroaggressionen kann man sich wie Mückenstiche vorstellen: Wir alle erleben sie, wir alle wurden schon von einer Mücke gestochen. Das ist lästig, unangenehm, aber kein Problem. Doch manche Menschen werden häufiger gestochen als andere und an manchen Orten findet man mehr Mücken als anderswo. Besonders wenn Menschen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis oder Minderheitensituation befinden, erleben sie häufiger Mikroaggressionen. Je höher die Dosis des täglichen Gifts, desto eher legt man sich Vermeidungstaktiken zu. Das ist nicht gut für Unternehmen.
Mikroaggressionen sind kurze, alltägliche Erniedrigungen, ablehnende, abfällige und/oder negative Kränkungen gegenüber Menschen, die sich in einem Abhängigkeitsverhältnis oder einer Minderheitensituation befinden. Der Begriff beschränkt sich nicht nur auf unterschwellige Herabsetzungen, sondern integriert auch sehr offensive Formen der Diskriminierung einschließlich offener (sexueller) Belästigung und Gewalt.
Der Begriff “microaggressions” wurde in den 1970er Jahren von Chester Pierce (Harvard University) eingeführt, um subtile Formen von Rassismus sichtbar zu machen. Er erkannte, dass trotz Kritik am offenen Rassismus People of Color sich weiterhin diskriminiert fühlten. Aus diesem Grund entwickelte der Wissenschaftler einen Begriff, der eine große Bandbreite an Diskriminierung beschreiben kann. Ihm ging es darum, auch nicht so offensichtliche Ausgrenzung sichtbar zu machen. Seit 2007 wird der Begriff auch im Kontext Geschlecht und anderen Vielfaltsdimensionen angewendet.
Mikroaggressionen basieren auf “unconscious bias”
Unsere “unconscious biases” – unsere unbewussten Grundannahmen – haben eine große Wirkung, die häufig unterschätzt wird. Tagtäglich führt dieses Phänomen dazu, dass Menschen nicht nach ihren Fähigkeiten beurteilt und so wertvolle Potenziale übersehen werden – mit enormen gesellschaftlichen wie auch wirtschaftlichen Folgen.
Unconscious biases bestehen aus Denkroutinen. Diese bilden verhaltenswirksame Tendenzen in der Beurteilung von Menschen, die auf unbewusste Wahrnehmungs- und Lernmechanismen zurückgehen. Das Gehirn nutzt sie zur Verarbeitung, um kognitive Ressourcen zu sparen. Das Gehirn ist nämlich von Natur aus denkfaul. Mit dem Ergebnis, dass bei den Verarbeitungsprozessen die schnellen Zuordnungen die eigenen Denkmuster – Vorurteile – verstärken und den Blick auf Neues oder Unbekanntes verschleiern.
(Denk-)Routinen helfen, unseren Alltag zu bewältigen.
Unsere Denkmuster sind biologische Pfade, die tief in unserem Gehirn verankert sind. Sie entstehen durch Sozialisationsprozesse. Sobald ein Muster verankert ist, wenden wir es immer wieder an und verstärken es damit. Es sind unsere Erfahrungen, die sich in unseren Gehirnen vernetzt haben, um schnelle und effiziente Entscheidungen zu treffen – auch in Bezug auf Menschen und unsere Handlungen.
Erinnern Sie sich noch, wie anstrengend es war, das erste Mal ein Auto zu steuern? Doch nach einigen Stunden der Übung ging alles wie von allein. Sie haben eine Gewohnheit, eine Routine aufgebaut. Heute hinterfragen Sie das nicht mehr. Sie setzen sich ins Auto und fahren los. Das ist auch gut so. Unser Gehirn ist darauf ausgerichtet, Energie zu sparen, um im Alltag ohne großen Aufwand und Energieverbrauch zurecht zu kommen. Sollen Sie nun aber etwas innerhalb einer Routine verändern, z. B. beim Autofahren von einem Automatikfahrzeug auf ein Getriebe umsteigen, kostet es wieder Energie und Sie müssen neue Abläufe lernen.
Dabei ist es egal, ob wir über Denk- oder Handlungsroutinen sprechen. Wir haben bestimmte Muster verinnerlicht und trainiert. Diese zu verändern, kostet Energie.
Routinen sind die Basis von Vorurteilen und Mikroaggressionen
Wie wir mit Menschen umgehen, basiert ebenfalls auf unseren Routinen, also unseren unconscious biases. Wir rechnen bei einer Frau im weissen Kittel im Spital vielleicht eher damit, dass sie die Krankenschwester ist und nicht die Ärztin. Und wir sprechen Menschen mit dunkler Hautfarbe vielleicht eher auf Englisch als auf Deutsch an. Auch verhalten wir uns in einer Bank anders als in einer Kneipe.
Auch dies ist oft gut und richtig, es führt jedoch zu einem bislang eher unbekannten Phänomen, dass Veränderung von Kultur, also den Umgang miteinander, besonders im Kontext von Diversität und Gleichstellung erschwert: den Mikroaggressionen.
“Mikroaggressionen sind Stolpersteine auf dem Weg zu einer vielfältigen Unternehmenskultur – und sie sind teuer.”
Mikroaggressionen verringern die Leistungsfähigkeit, führen zu Krankheitsausfällen und langfristig zu hoher Fluktuation in der Belegschaft. Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen und Minderheitensituationen erleben sie häufig, und gerade am Arbeitsplatz machen sie oft krank und verhindern Bestleistungen.
Wird eine Frau ständig auf ihr Äußeres reduziert, fühlt sie sich nicht ernstgenommen. Erhalten Menschen mit Migrationshintergrund häufig „Komplimente“ für ihre ausgezeichneten Sprachkenntnisse, fühlen sie sich fremd im eigenen Land und nicht als Teil des Teams. Ebenso kann das Entwerten von Erfahrungen und Meinungen schwerwiegende Folgen haben, z. B. Kommentare wie „Stellen Sie sich nicht so an, es gibt Menschen, denen geht es viel schlechter als Ihnen.“ Das sind nur drei der häufigsten Beispiele für Mikroaggressionen.
Mikroaggressionen beschreiben die ganze Bandbreite von Diskriminierung und Ausgrenzung
Im Gegensatz zu offener Diskriminierung, wie rassistischen Übergriffen und sexueller Belästigung, ist es bei subtileren Formen für die Betroffenen schwieriger, Grenzen zu setzen, sich zu wehren. Wenn sie mit Ärgernis reagieren, kommen gleich die nächsten Mikroaggressionen, sie seien zu empfindlich, oder das vermeintliche „Kompliment“ sei doch nur nett gemeint. Je häufiger das passiert, desto eher sind Betroffene zudem verängstigt, dass es gleich wieder passieren könnte. Sie sind zudem ständig in Alarmbereitschaft, was ebenfalls nachträglich für ihre Leistungsfähigkeit und Gesundheit ist.
Kulturwandel entwickelt sich aus Wertewandel
Wenn ein Unternehmen von Diversität profitieren möchte, ist es ratsam, auf die existierende Unternehmenskultur zu schauen und klar zu definieren, welches Verhalten gewünscht, erlaubt, grenzwertig und nicht akzeptiert ist. Diese erwünschten Werte werden damit sichtbar und kommunizierbar.
Dabei kommt den Führungskräften eine besondere Rolle zu. Sie sind Vorbild, ob sie wollen oder nicht. Es ist nötig, klar Stellung zu beziehen, konkrete Prozesse zu beschreiben und diese konsequent umzusetzen. Dafür braucht es Mut, Durchhaltevermögen und eine regelmäßige Selbstreflexion aller Beteiligten und für die Organisation als Ganzes.
Gelungenes Diversity Management trainiert zugleich Organisationen mit Unterschiedlichkeit umzugehen und es macht sie offener und flexibler – eine gute Basis für dynamische Change Prozesse.
Lernen ist nicht delegierbar.
Das Management von Vielfalt ist anstrengend. Veränderung bedeutet, neue Routinen aufzubauen. Das bedarf Energie, klarer Ziele und Übung. Sonst bleibt es bei guten Vorsätzen.
Doch nur so ist es möglich, langfristig Mikroaggressionen, und damit die gesamte Bandbreite von Diskriminierung einzuschränken und eine diverse Unternehmenskultur aufzubauen, in der alle Menschen entlang ihrer Kompetenzen sich bestmöglich entfalten können. So wird Ihr Unternehmen attraktiver für Fachkräfte, verbessert die Umsätze und andere gängige KPIs und kann langfristig von den vielen wirtschaftlichen Vorteilen von Diversität profitieren.
Von Diversität und Unternehmenskultur: Warum Mikroaggressionen Handeln erfordern.
Zahlreiche Studien belegen es: Der Zusammenhang zwischen gelebter Vielfalt und Innovationskraft, Zufriedenheit der Belegschaft, Produktivität und kundenorientierten Leistungen ist erwiesen. Doch die positiven Auswirkungen von Diversität entstehen nicht automatisch, sondern können sich nur dann entfalten, wenn sie systematisch und bewusst in Organisationen gefordert, gefördert und aktiv durch Ziele und Massnahmen gestaltet werden.
Aber wie kann das gelingen? Die Erfahrung zeigt: Veränderungsprozesse sind schwerfällig, teuer und oft nicht nachhaltig. Es ist wie mit Neujahrsvorsätzen: Das Ziel ist klar, der Wille da, doch der Weg ist mühsam und die Erfolge lassen auf sich warten.
Kulturwandel ist herausfordernd, aber es lohnt sich
Besonders herausfordernd sind kulturelle Veränderung, wenn sie – wie z. B. in Unternehmen – eine Grosszahl an Menschen betreffen (sollen). Eine grosse Hürde hierbei sind Mikroaggressionen – denn sie sind meist unsichtbar und unbewusst, können aber grossen Schaden anrichten. Hier anzusetzen, kann Unternehmen Kosten ersparen und Umsätze steigern.
Dr. Ruth Müntinga ist Soziologin & Expertin für Ungleichheits- & Glücksforschung. Im Rahmen ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin und politische Beraterin konnte sie die Ursachen für die noch immer existierende Ungleichheit identifizieren und daraus Lösungen entwickeln. Dies war die Geburtsstunde von motus5, einer Organisationsberatung zu Gleichstellung und Diversität. Als Mitgründerin und CEO von motus5 unterstützt sie Menschen, Organisationen, Vereine und Unternehmen darin, die gläserne Decke zu durchbrechen.
Doris Heitkamp-König hat 30 Jahre als Managerin in der Automobilindustrie gewirkt und viele Transformations-Prozesse gestaltet und verantwortet: Grossflächige Programme für Führungskräfte-, Personal- und Organisationsentwicklung, Change- und Diversity-Management und Markenkommunikation. Auf der Suche nach Antworten, warum Veränderungsprozesse so schwerwiegend und wenig nachhaltig sind, hat sie Lösungen gefunden, die sie als CEO und Beraterin bei motus5 in die Praxis bringt.
Quellen zum BLOG-Artikel:
Friedlaender, C. (2018): On Microaggressions: Cumulative Harm and Individual Responsibility. In: Hypatia, 33, H. 1, 5-21.
Kroeger, T./Meng, F./Müntinga, R./Stephan, J. (2022): ‚Microaggressions’ als Herausforderung für geschlechter-untypische Auszubildende: Anwendungsmöglichkeiten des Erklärungsansatzes im Kontext von Bildungs(un)gerechtigkeit in Ausbildungsverläufen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 42, 1-26. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/kroeger_etal_bwpat42.pdf (30.06.2022).
Pierce, C. M./Carew, J. V./Pierce-Gonzalez, D./Wills, D. (1977): An Experiment in Racism. In: Education and Urban Society, 10, H. 1, 61-87.
Sue, D. Wing/Capodilupo, C. M./Torino, G. C./Bucceri, J. M./Holder, A. M. B./Nadal, K. L./ Esquilin, M. (2007): Racial microaggressions in everyday life: implications for clinical practice. In: The American psychologist, 62, H. 4, 271-286.