Grenzen der Inklusion und Toleranz

Diversity und Inklusion erfordern viel Toleranz im Umgang miteinander – mehr als homogene Gruppen dies tun. Manchmal zeigt jedoch eine Seite ein Verhalten oder fordert Bedingungen, die der anderen Seite verletzend oder einschränkend erscheinen. Das kann zu Spannungen und Konflikten führen. Insbesondere in der Unternehmenswelt, die zunehmend auf Diversität setzt, können verschiedene Bedürfnisse und Erwartungen von Mitarbeitenden zu einer Herausforderung für Leadership und Inklusion werden. Doch man sollte sich nicht auf jeden Anspruch einlassen.

«Diversität ist ein Fakt – Inklusion ist eine Haltung», das ist ein verbreitetes Zitat. Es gilt als Kurzformel für den Zusammenhang, dass erst die Inklusions-Haltung kulturbildend ist: Es ist diese Führungskultur, die schliesslich die Vielfalt aufrechterhält und wirksam werden lässt. Diversitätsziele und Ihre Überprüfung sind deshalb nur Krücken, um die erwünschte Kultur messbar zu machen. Diversität und Inklusion werden jedoch oft als Allheilmittel verklärt und mit Maximalanspruch eingefordert. Wie mit allem im Leben, es ist auch hier die Menge, die das Gift bzw. die Medizin ausmacht.

Kulturhygiene pflegen

Toleranz ist das Fundament einer offenen und inklusiven Firmenkultur. Allerdings gibt es Situationen, in denen es notwendig ist, Grenzen zu setzen. Sie schützen die Grundprinzipien der Toleranz und der gesunden Kultur im Unternehmen. Hier sind einige Situationen, in denen es erforderlich sein kann, der Toleranz und Inklusion Grenzen zu setzen:

    • Gefahr für die Persönlichkeitsrechte und die persönliche Integrität. Toleranz sollte niemals dazu führen oder dafür missbraucht werden, dass grundlegende Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Wenn eine bestimmte Meinung oder Handlung die Menschenwürde angreift, Diskriminierung fördert bzw. zu physischem oder psychischem Schaden führen kann, müssen klare Grenzen gesetzt werden.
    • Gefährdung der psychischen Sicherheit. Toleranz sollte nicht dazu führen, dass missbräuchliches oder toxisches Verhalten Einzelner im Unternehmen geduldet wird. Wenn Meinungsäusserungen oder Verhaltensweisen eine unmittelbare Bedrohung für die psychische Sicherheit und Integrität von anderen Menschen in der Organisation darstellen, ist es notwendig, Massnahmen zu ergreifen.
    • Missbrauch von Toleranz. In einigen Fällen kann Toleranz als Wegbereiter für Intoleranz dienen. Wenn bestimmte Gruppen oder Individuen die Toleranz gezielt als Mittel missbrauchen, um Feindseligkeit oder Diskriminierung zu fördern, müssen klare Grenzen gesetzt werden, um solche Missbräuche zu unterbinden.
    • Ethische Grundsätze und Werte. Toleranz sollte nicht dazu führen, dass ethische Grundsätze und Werte untergraben werden, die für das Unternehmen von grosser Bedeutung sind. In Situationen, in denen Toleranz im Konflikt mit grundlegenden ethischen Prinzipien steht, können Grenzen erforderlich sein.
    • Grenzen der Pluralität. Die Toleranz sollte nicht dazu führen, dass zu einseitige oder übertriebene Ansichten ohne Einschränkungen hingenommen werden. Es ist wichtig, Grenzen zu setzen, um die Pluralität zu bewahren, ohne missbräuchlichen Verhaltensweisen eine Plattform zu bieten.
    • Opfer-Täter-Umkehr. Toleranz sollte nicht dazu führen, dass Menschen in Schutz genommen werden, die die Grenzen des Miteinanders überschreiten, indem jene, deren Grenzen missachtet wurden, für die Grenzüberschreitung (mit)verantwortlich gemacht werden.

    Warum die Vielfalt steigt

    Unsere Wirtschaft wächst – sie soll wachsen, damit unser Wohlstand steigt. Gleichzeitig schrumpft die Schweizer Bevölkerung seit Jahren: im Durchschnitt bringt jeder Einwohner der Schweiz (Frauen mitgemeint) nur noch knapp 0.7 Kinder hervor. Das ist ein wesentlicher Grund für den Fachkräftemangel. Deshalb setzt der Schweizer Bundesrat auf vier Säulen für den Arbeitsmarkt:

    1. Die Erhöhung der Erwerbsquote der Frauen.
    2. Die effektivere Berufswahl und Ausbildung der Jungen.
    3. Die längere Verpflichtung der Älteren.
    4. Die gezielte Zuwanderung aus dem Ausland.

    Eine weitere Quelle von Arbeitskräften kann der sogenannte «zweite Arbeitsmarkt» sein, in dem Menschen arbeiten, die aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht der Norm der Leistungserwartungen entsprechen. Einige Berufsaussteiger ziehen sich zudem auf eine selbständige Erwerbstätigkeit zurück. Die Wirtschaft wird notwendigerweise viele dieser Personen im erwerbsfähigen Alter in Betriebsstrukturen eingliedern wollen, um die eigene Geschäftstätigkeit aufrechterhalten zu können. Wenn mehr unterschiedlichere Menschen in Unternehmen arbeiten, führt das häufig zu mehr Spannungen und Konflikten.

    Darum braucht es Grenzen.

    Wenn man in einer Gesellschaft versucht, alles und alle zu inkludieren, wenn also die unbegrenzte Toleranz der allgemeine Anspruch ist, können schlaue Gruppen oder Individuen diese Offenheit ausnutzen, um ihre eigenen Zwecke durchzusetzen. Diese Zwecke zielen oft darauf ab, sich zu Lasten anderer Menschen oder einer Organisation eigene Vorteile zu verschaffen und Macht auszuüben. Nicht selten wird damit auch die Toleranz unterspült, die diesen Einfluss erst ermöglicht hat. Diese Paradoxie («Toleranz Paradoxon») verdeutlicht die Notwendigkeit, auch in Unternehmen klare Grenzen zum Schutz der Toleranz und der Vielfalt zu setzen, um die Werte und Prinzipien einer offenen und toleranten Firmenkultur zu schützen.

    Die Idee für die Formulierung des Toleranz-Paradoxons gründet auf der Beobachtung, dass eine zu weitreichende Toleranz gegenüber Intoleranz dazu führen kann, dass die Toleranz selbst untergraben wird. Der Philosoph Karl Popper formulierte dieses Konzept in den 1940er Jahren, insbesondere in seinem Werk “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” von 1945.

    Das Setzen von Grenzen zum Schutz von Toleranz ist eine sensible Aufgabe. Dabei müssen die Prinzipien der Meinungsfreiheit, Vielfalt und Persönlichkeitsrechte beachtet und legitime Meinungsverschiedenheiten respektiert werden, während gleichzeitig unakzeptable Verhaltensweisen eingeschränkt werden.

    Gerade in Unternehmen oder einzelnen Bereichen, wo echte Leadership eigentlich fehlt und das tatsächliche Laisser-Faire mit Konzepten wie Vertrauen, Befähigung, Eigenverantwortung und Selbstorganisation maskiert werden, müssen Verwaltungsräte und die Geschäftsleitung besonders achtsam sein. Denn ein Führungsvakuum ist ein fruchtbarer Nährboden für Toleranz-Missbrauch.

    Wie man Inklusion misst.

    Führungskräfte sollten nicht warten, bis es zu hohen Fluktuationsraten oder sinkender Performance kommt. Sie sind zwar ein einfach messbarer Hinweis auf eine sich zersetzende Firmenkultur, aber die späte Reaktion ist meist teuer. Man verliert so unnötig Knowhow und der Ruf als Arbeitgeber könnte bereits schmerzlich gelitten haben. Früher, als Arbeitskräfte noch eine Ressource im Überfluss waren, schien das vielleicht weniger einschneidend.

    In Zeiten des Fachkräftemangels sollte man den Schaden möglichst klein halten wollen. Mit geeigneten Mitarbeiter-Befragungen lassen sich erste Anzeichen früher erkennen. Natürlich ist es schwieriger, die Firmenkultur zu messen und abzubilden, als die Arbeitsstunden. Aber keine Sorge, es gibt geeignete Analyse-Werkzeuge, die die Kultur-Landschaft in einem Unternehmen erfassen können und mit denen man später die Wirkung der umgesetzten Massnahmen verfolgen und belegen kann.

    Es ist eine Führungsaufgabe für alle.

    Entgegen dem verbreiteten Vorurteil, dass Diversity und Inclusion ein woker Streichelzoo seien, ist die konsequente Kulturpflege und das Einfordern wirksamer Leadership mühsame Arbeit. Die verbreiteten kommunikativen Sensibilisierungsbemühungen und Anti-Bias-Trainings sind gemäss wissenschaftlichen Studien oft unwirksam oder gar kontraproduktiv. In den vergangenen Jahren wurde zudem viel Fokus auf die Geschlechterperspektive gelegt, was zu unproduktiven Irritationen und Spannungen führte. Diversität bedeutet viel mehr als ein biologischer Unterschied. Sie ist sie eine Führungsaufgabe für alle Führungskräfte und kann nicht an die Frauen im Personaldienst delegiert werden.

    Nährboden für Vielfalt.

    Es kann für Unternehmen entscheidend sein, den einen oder anderen faulen Apfel aus dem Korb zu nehmen, damit dieser die gesunden Äpfel nicht verdirbt. Gemäss Untersuchungen ist die Kündigung einer uneinsichtigen und schädlichen Führungskraft in der Regel viermal wirksamer für den Unternehmenserfolg als das Einstellen einer hervorragenden Führungsperson. Niemand ist so gut und unersetzlich, dass viele darunter leiden müssen. «Ich habe zu oft zu lange gewartet» sagen viele Unternehmerinnen und Unternehmer auf die Frage nach ihren eigenen Führungsfehlern. Indem Führungskräfte ehrlich hinschauen, Grenzüberschreitungen sowie Uneinsichtigkeit benennen und die Konsequenzen daraus ziehen, können sie echte Leadership zeigen und den Nährboden für Inklusion und Vielfalt pflegen.

    Esther-Mirjam de Boer ist geschäftsleitende Partnerin von Brainboards AG. Sie entwickelt und vermittelt Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen. Seit über 30 Jahren engagiert sie sich für Vielfalt und Inklusion in der Wirtschaft und Öffentlichkeit als Thought Leader.