Kraftübertragung zwischen Geschäftsleitung und Verwaltungsrat

Die Arbeit in Verwaltungsräten in der Schweiz findet in einem Spannungsfeld strategischer und operativer Aufgaben statt. Das Gesetz verpflichtet den Verwaltungsrat, die strategische Ausrichtung eines Unternehmens zu bestimmen und die langfristige Vision zu entwickeln sowie die Finanzsituation und die Risiken zu überwachen. Auch die relevante Besetzung sowie die Zusammenarbeit auf Stufe Verwaltungsrat und in der Unternehmensleitung sind von kritischer Bedeutung, genauso wie die Kommunikation intern und extern. 

“Head in – Hands out” heisst es oft im Jargon der Verwaltungsräte. Wie sieht es in der Realität aus? Auf welcher Flughöhe ist ein Verwaltungsrat besonders wirksam? 

Viele Beispiele der Schweizer Wirtschaft zeigen ein buntes Bild. 

Wie war das bei Ihnen? Wieviel wollten Sie bei der letzten Rekrutierung einer neuen Verwaltungsrätin wissen über ihre operative Erfahrung, Strategien im Markt zu implementieren, gegenüber ihrer Fähigkeit, relevante strategische Fragen zu stellen oder die Geschäftsleitung auf dem Pfad der Transformation mitzulenken? Wahrscheinlich beides, oder? 

Wenn die Präsidentin eines Start-up die Liquiditätsplanung in einer Krise selbst in die Hand nimmt, handelt sie absolut richtig. Wenn ein Krieg oder eine Pandemie Ihre Lieferkette komplett durcheinanderbringt, dann müssen Sie aus dem Verwaltungsrat “eingreifen” und kurz- bis mittelfristige Massnahmen mit dem Management einleiten. Dann nehmen Sie sogar das Telefon in die Hand und aktivieren Kontakte, unterstützen bei Verhandlungen etc. 

Aber was passiert, wenn der Verwaltungsrat eines mittelgrossen Unternehmens dauerhaft als Geschäftsleitungskonkurrenz dient, oder sich sogar der eigenen operativen Vorliebe treiben lässt und die Verwaltungsratssitzung mit impulsiven, taktischen Verbesserungsvorschlägen punktuiert? Und wenn anschliessend die Zeit für die IT-Strategie oder das M&A Update fehlt? 

Am anderen Ende des Spektrums hatten wir bekanntlich eine Grossbank, deren Verwaltungsrat wie “eingefroren” die Zerstörung ihres Börsenwerts anscheinend wortlos beobachtete. Man spekuliert rückwirkend, ob der Verwaltungsrat nicht genug operative Einsicht in das Geschäft gehabt hätte. 

Spätestens bei diesen zwei ausgeprägten Beispielen wird klar, dass das Wissen aus Lehrbüchern und Ausbildungen zu kurz greift. 

Aus einer kleinen Umfrage von 20 HSG VR-CAS Absolventen (Juli 2023) resultiert, dass 70% der Befragten – aus der Sicht der Geschäftsleitung – ihren Verwaltungsrat als «zu operativ» wahrnehmen. Diejenigen aber, die bereits ein VR-Mandat haben (8) schätzen die Arbeit ihres eigenen Verwaltungsrats als «balanciert» ein, äussern allenfalls den Wunsch, das Operative noch besser zu verstehen und gleichzeitig strategischer zu werden. 

Was nun? 

Das eindrucksvollste “Best Practice”-Beispiel lieferte mir der Präsident eines börsenkotierten Schweizer Industrieunternehmens. Zusätzlich zu seinen klassischen Aufgaben zur Governance und in Ausschüssen, nimmt jedes Verwaltungsratsmitglied punktuell an gewissen strategischen Projekten mit dem operativen Team teil. Es sind zwei bis drei Meetings im Jahr; beim Projekt kann es von der Konzeption bis hin zur Überwachung gehen. Das Projektteam besteht aus Mitarbeitenden verschiedener Levels. Das jeweilige VR-Mitglied zieht dann situativ den Hut der Strategin oder des operativen Experten an.  

Dieses Unternehmen zog auch dank ihrer Führungskultur in den letzten Jahren die besten Talente für Verwaltungsrat und Management an, und der Nettoumsatz wuchs zwischen 2017-2022 um 46%, die EBIT-Marge sogar um 64% auf 18% des Nettoumsatzes. 

Die Kunst besteht also darin, das Gleichgewicht und die Verbindungsstellen zwischen strategischem und operativem Denken zu pflegen. Der Verwaltungsrat sollte in der Lage sein, die langfristige Strategie des Unternehmens zu steuern und gleichzeitig die Flexibilität und Kapazität haben, operativ zu denken und zu handeln, wenn es erforderlich ist, insbesondere in Krisen. Eine klare Kommunikation und enge Zusammenarbeit mit dem operativen Management sind entscheidend, um dieses Spannungsfeld zu überbrücken und den Erfolg des Unternehmens sicherzustellen. 

Aber Achtung: die strategische Governance-Arbeit darf darüber hinaus nicht vergessen gehen! Dies ist insbesondere in Start-ups und KMU ein Risiko – und die Schweizer Wirtschaft besteht bekanntlich zu 99% aus KMU mit weniger als 250 Mitarbeitenden. Einige KMU-Verwaltungsräte haben in den vergangenen Jahren zum Beispiel Fokussitzungen eingeführt mit reichlich Platz für strategische Schwerpunktthemen auf der Agenda.

Mit einer neuen Kalibrierung dieses “Balanceakts” der Unternehmensführung könnten viele moderne Verwaltungsräte ihrer Arbeit dezidiert mehr Kraft verleihen.

Emilie Neukom
Chief Commercial Officer – Labor Team W AG 
HSG VR-CAS